Appell gegen die Unwissenheit – warum wir eine Komponistinnen-Renaissance brauchen –

Der Begriff „Klassische Musik” umspannt fast tausend Jahre Kulturgeschichte und vereint verschiedene Stilrichtungen und Klangsprachen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Johann Sebastian Bach hat mit Hector Berlioz ungefähr genauso viel zu tun wie Dolly Parton mit David Bowie. Eines aber haben Sebastian und Hector gemeinsam: Beide waren Männer. Bis heute ist der klassische Kanon, der in den Konzerthäusern gespielt und an den Schulen gelehrt wird, vorwiegend männlich.

Einer Statistik der Website Bachtrack zufolge waren nur 22 der 200 meistgespielten Komponist*innen des Jahres 2023 Frauen. Immerhin: 2013 waren es nur 2. Wir erleben also gerade einen kleinen Aufwärtstrend. Doch von Parität kann noch lange keine Rede sein. Woran liegt das? Einer der vielen Gründe, die für dieses Ungleichgewicht verantwortlich sind, ist Unwissenheit.

Sehr weit verbreitet ist etwa der Glaube, dass es im Laufe der Musikgeschichte schlichtweg nicht genügend Komponistinnen gegeben hätte, um eine diversere Programmgestaltung möglich zu machen. Und auf den ersten Blick erscheint diese Annahme auch logisch. Wie die Schriftstellerin Virginia Woolf in ihrem berühmt gewordenen Essay Ein Eigenes Zimmer mit unvergleichlichem Scharfsinn feststellte, braucht es für produktives künstlerisches Arbeiten nämlich vor allem zwei Dinge: a room of one’s own and 500 pounds per year.

Was Woolf damit meint, ist, dass es vielen begabten Frauen der Vergangenheit an Privatsphäre und finanzieller Eigenständigkeit fehlte: Um malen, schreiben oder komponieren zu können, braucht man einen Ort, an dem man ungestört sein kann. Und am besten hat man auch ein kleines finanzielles Polster, um kreative Durststrecken frei von Existenzängsten überstehen zu können. Beides schien für die überwältigende Mehrheit von Frauen jahrhundertelang unerreichbar. Möglich, dass viele Talente angesichts dieser riesigen gesellschaftlichen Hürden resigniert und den Traum von der Kunst spätestens mit der Hochzeit an den Nagel gehängt haben. Und überhaupt: Warum hätte man als Frau des 19. Jahrhunderts auch eine Sinfonie schreiben sollen, wenn die Partitur doch eh nie Schreibtischschublade verlassen und den Weg auf die Pulte eines Orchesters gefunden hätte? 

Doch Geschichte ist fast immer komplizierter, als sie erzählt wird, und Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel.

Wer sich mal die Zeit nimmt, das Archiv Frau und Musik in Frankfurt zu besuchen, das sich seit den 70- er Jahren mit dem kompositorischen Werk von Frauen beschäftigt, kann dort Briefe, Handschriften und Erstdrucke von etwa 2100 Komponistinnen der letzen Tausend Jahre bestaunen, die allen gesellschaftlichen Widerständen zum Trotz im Schatten der Geschichte erblüht sind. 

Diesen Schatz gilt es zu heben und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Nun könnte man an dieser Stelle natürlich fragen: Was hat political correctness in der Kunst verloren? Sollte ein Musikstück nicht in erster Linie schön sein, uns berühren, aufwühlen, zum Lachen, Weinen oder zum Schwärmen bringen? Ist es nicht egal, wer es geschrieben hat? 

All diese Fragen sind berechtigt, aber sie verkennen, dass jedes Kunstwerk jemanden braucht, der für es kämpft und es in die Welt trägt: Hätte Max Brod Kafkas Manuskripte nach dessen Tod nicht veröffentlicht, hätte Felix Mendelssohn-Bartholdy Johann Sebastian Bachs Oratorien nicht wiederentdeckt und aufgeführt – wie viele großartige Kunstwerke wären für immer unter dem Schleier des Vergessens verschwunden? Auch in der derzeitigen zaghaften Komponistinnen-Renaissance geht es nicht darum, den Schöpfer größer zu machen als das Werk. Es geht auch nicht um kleinliches Aufrechnen zwischen den Geschlechtern. Es geht um Vielfalt.

Solange das Werk dieser Künstlerinnen ungehört in den Archiven schlummert, gehen uns einzigartige Konzerterlebnisse, emotionale Impulse und künstlerische Perspektiven verloren. Wenn wir wollen, dass die Welt der klassischen Musik lebendig bleibt und nicht zum Museum verkommt, müssen wir zulassen, dass hin und wieder neue Geschichten erzählt werden und neue Stimmen erklingen. Nur so kann Musik ein Spiegel sein, in dem wir uns selbst erkennen und der uns an unsere Menschlichkeit erinnert.

von Anna Schors

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The Reason Why - making Female Composers visible.